Sind Sanktionen für Arbeitslose manchmal sinnvoll?

Claudia Baubkus, die Leiterin des Jobcenters FFB, im Interview mit der Brucker SZ vom 1.12.19, nennt erschreckende Zahlen: „Im Jahr 2018 waren durchschnittlich 98 erwerbsfähige Leistungsberechtigte pro Monat mit mindestens einer Sanktion belegt. Darunter waren durchschnittlich 18 Personen mit zwei oder mehr Sanktionen belegt … Unsere Sanktionsquote beträgt bisher acht bis zehn Prozent. Das ist in etwa auch der bundesweite Durchschnitt … In der Regel waren es Sanktionen zu 30 und 60 Prozent. Bei ‚Totalverweigerern‘, die jegliche Mitwirkung versagten, kam es zu einem vollständigen Wegfall der Regelleistung … Wir haben 2018 durchschnittlich etwa 3600 Bedarfsgemeinschaften betreut: Darunter befinden sich 1845 Single-Bedarfsgemeinschaften, 738 Alleinerziehende, 626 Partner-Bedarfsgemeinschaften mit Kindern sowie Partner-Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte werden im Landkreis ungefähr 5000 betreut … Arbeitslos sind 1154 Personen. Etwa 75 Prozent der SGB II-Bezieher sind Personen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, vom Verdienst aber nicht leben können … Das sind 358 Leistungsberechtigte, also knapp acht Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Tendenz steigend aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere der hohen Mieten … Ja, ich halte die 30 Prozent für richtig … Aus meiner Sicht ist die Grundsicherung ein soziales Grundrecht, das an zumutbare Mitwirkungspflichten geknüpft ist …“
Der Erwerbslosenverein „Tacheles“ hat eine umfangreiche Umfrage zu den Folgen und Wirkungen von Sanktionen durch die Jobcenter durchgeführt … “An der Befragung haben Leistungsbezieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Anwältinnen und Anwälte aber auch viele Jobcentermitarbeiter*innen teilgenommen. Einige Ergebnisse: 86,9 % aller Befragten hielten Sanktionen „nicht für geeignet“, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80% der Umfrageteilnehmer*innen zu schlechter entlohnten und prekären Jobs. Fast genauso viele (79,2%) sehen eine konkrete Dequalifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn. Dass Sanktionen auch ganze Haushalte, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, treffen sehen 83,9% der Befragten. Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9% alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen/jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister. Weit über die Hälfte (64,9%) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben und 69,6 % haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren. Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3%) waren/sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale und mehr als jeder Zweite (56,3%) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben. 63,3% aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5% „Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung/Belastung“ an. Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40% der Teilnehmenden. Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4% der Befragten und mehr als jeder Dritte (38,0%) erlebte „rechtswidriges oder willkürliches“ Verhalten“ durch die Jobcenter.”(https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/tickerarchiv/d/n/2462)
Prof. Dr. Heribert Prantl, lange Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, jetzt Kolumnist und Autor der SZ, schrieb in seinem Kommentar zum BGH-Urteil: „Das Karlsruher Urteil lässt das kalte Herz von Hartz IV weiterschlagen, nach Implementierung von ein paar Stents … Wer sich nicht konform verhält, wer echt oder angeblich zumutbare Arbeit nicht annimmt, nicht zur gemeinnützigen Arbeit antritt, Termine nicht wahrnimmt oder Dokumente nicht beibringt – dem werden die Leistungen bis weit unter das Existenzminimum gekürzt, wenn auch nicht mehr ganz so brutal und pauschal wie bisher; er kann aber womöglich auch künftig seine Stromrechnung nicht mehr bezahlen … Man hätte sich ein Urteil gewünscht, das die Spaltung der Gesellschaft nicht hinnimmt, sondern sie überwinden hilft. Man hätte sich ein Urteil gewünscht, das aufzeigt, wie Arbeitslose gut gefördert werden können. Man hätte sich ein Urteil gewünscht, das nicht schwarze Pädagogik unterstützt, sondern den Sozialstaat als Schicksalskorrektorat beschreibt … Die Armen in Deutschland werden gern als ‚sozial schwach‘ bezeichnet. Das ist eine Beleidigung. Sozial schwach sind diejenigen, die den Armen aus der Armut helfen könnten, es aber nicht tun. Sozial schwach ist auch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts.“ (https://www.sueddeutsche.de/politik/hartz-iv-urteil-prantl-meinung-1.4673395)
Aus einem Kommentar von Prof. Dr. Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften: „Für viele Menschen wird es pragmatisch nun darum gehen müssen, dass das, was in den Jobcentern passiert, rechtlich möglichst klar normiert und zugleich eine zivilgesellschaftliche Anwaltsfunktion installiert wird, die Hilfestellung leisten kann, wenn man im letzten Außenposten unseres Sozialstaates unter die Räder kommt.“ (http://aktuelle-sozialpolitik.de/2019/11/06/ein-sowohl-als-auch-urteil)